Mein Statement zur aktuellen Evakuierung aus Afghanistan

Veröffentlicht am 25.08.2021 in Aktuelles

25.08.2021

Das Foto entstand nach einer Einweisung durch deutsch-bilaterale Polizeiteams über den Polizeiaufbau des Landes Afghanistan in Kabul im September 2008

Am 25.08.2021, ab 12:00 Uhr beriet der Deutsche Bundestag über die Lage in Afghanistan und dem damit bereits begonnenen Einsatz der Bundeswehr zur Evakuierung deutscher Staatsangehöriger, Personal der internationalen Gemeinschaft und afghanischer Ortskräfte. 

Die Debatte kann später in der Mediathek des Bundestages unter https://www.bundestag.de/mediathek nachgeschaut werden.
Da mich in der letzten Woche unzählige Briefe und E-Mails zu der Lage in Afghanistan erreichten haben, möchte ich auch hier meine Stellungnahme öffentlich machen.

Ich bin ganz genauso entsetzt und beschämt über die Bilder aus Afghanistan von verzweifelten Menschen, die angesichts der Machtübernahme der Taliban versuchen, das Land zu verlassen. Ich bin Ende Mai 2006 und Anfang September 2008 persönlich zwei Mal in Afghanistan gewesen, um dort unsere Eutiner Soldaten als Aufklärer im Auslandseinsatz wie auch unsere Ausbildungsmission der Bundespolizei zum Aufbau der afghanischen Polizeikräfte in Mazar-I-Sharif, in Kunduz und in Kabul zu besuchen. Damals hatte ich auch intensive Kontakte zu Ortskräften und habe humanitäre Projekte – insbesondere mit und für Frauen – persönlich kennengelernt. Viele meiner SPD-Kollegi*innen haben ebenso Afghanistan regelmäßig besucht und dort enge Kontakte zu deutschen Aufbauhelfer*innen und ihren Ortskräften gepflegt – wir alle fühlen uns angesichts der dramatische Situation in Afghanistan äußerst bestürzt und verantwortlich und tun – gemeinsam mit unserer Regierung – alles, um dem gesellschaftlichen Appell gerecht zu werden.

Im Cockpit der Transall kurz vor dem Flug Kunduz - Kabul über den Hindukusch

Die guten Nachrichten sind immerhin, dass ALLE Personen – auch ohne Reisepass und Visum – am Kabuler Flughafen OHNE Ausnahme ausgeflogen werden und  „Visa-On-Arrival-Verfahren“ durchgeführt werden. Dies wird seit Beginn der Luftbrücke von der Deutschen Regierung praktiziert.

Fakt ist leider auch aus meiner Sicht, dass beide Maßnahmen – ebenso wie die Evakuierungen insgesamt – deutlich früher und unbürokratischer hätten organisiert werden müssen. Aber Fakt ist auch, dass der „Bremsklotz“ innerhalb der Bundesregierung dabei über Monate Bundesinnenminister Horst Seehofer war: Das hat nicht nur das Auswärtige Amt, sondern auch das Bundesverteidigungsministerium gegenüber den Abgeordneten in den Sondersitzungen der Ausschüsse letzte Woche bestätigt. Leider wurden erst am 13. August von Horst Seehofers Bundesinnenministerium die Voraussetzungen für die Durchführung von Charterflügen geschaffen. Über sieben Monate blockierte das Innenministerium eine praktikable Lösung für eine Ausreise per Charterflug, bei der benötigte Visa direkt bei der Ankunft in Deutschland erteilt werden können („Visa-on-arrival“). Die SPD hatte innerhalb der Regierung bereits im April eine solche Lösung vorgeschlagen und auch die Innenministerkonferenz der Länder bat im Juni (!) bereits um eine Prüfung dieses Vorgehens. Doch nun gilt der Beschluss der Regierung, dass Papiere erst NACH dem Abflug kontrolliert und Visa auf deutschem Boden erstellt werden können. Zum Check-In reichen auch Papiere z.B. der Arbeitgeber und dass die Namen auf den Listen des Auswärtigen Amtes stehen, die die anderen Ressorts (BMVg, BMI, BMZ) zugeliefert haben. Ich möchte nur zur Vollständigkeit darauf verweisen, dass diese Listen für die zu berücksichtigenden Ortskräfte und ihre Familienangehörige für den Einsatz der Soldaten vom (CDU-geführten) Verteidigungsministerium und für die Polizeieinsätze, die politischen Stiftungen und die humanitären Einsätze der Entwicklungszusammenarbeit von den (CSU-geführten) Ministerien für die Innere Sicherheit und für die Wirtschafts- und Entwicklungszusammenarbeit erstellt werden müssen und auch NUR von ihnen erstellt werden KÖNNEN.

Gerne möchte ich auf ein Interview in der Hamburger Morgenpost vom 18. August von meinem seit vielen Jahren sehr geschätzten SPD-Bundestagskollegen Niels Annen hinweisen, der nicht nur im Oktober 2008 und im November 2015 als außenpolitischer Experte der SPD-Bundestagsfraktion zu Vorträgen und öffentlichen Diskussionen 2 x auf meine Einladung in Eutin war, sondern der seit 2014 als Staatsminister im Auswärtigen Amt tätig ist und am 18. August 2021 in der „Mopo“ mit deutlichen Worten zur aktuellen Situation konkret zitiert wird: Immer wieder erreichen ihn täglich dringende Bitten, diesen oder jenen Namen mit auf die rettenden Listen zu setzen – oft von Hilfsorganisationen, die ihre einheimischen Mitarbeiter aus Afghanistan holen wollen. Jede Meldung, die einigermaßen plausibel erscheint, wird bearbeitet, der Name notiert: (Zitat) „Wer auf einer Liste steht und es durch das Tor in den Flughafen schafft, wird ausgeflogen, egal, welche Priorisierung er hat.“ Die Listen sind lang: Allein die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit zählt knapp 700 afghanische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit ihren Familien ihre Ausreise nach Deutschland beantragt haben.

Die Lage vor Ort lässt keinen Zweifel zu, dass die Evakuierungsaktion militärisch abgesichert wird und dass es angesichts der sich überschlagenden Ereignisse in Afghanistan äußerst schnell gehen muss. Das hierfür zwingend erforderliche Bundestagsmandat – wir haben als einziges Land eine „Parlamentsarmee“ - wird heute am 25. August 2021 in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages beschlossen – ich bin schon jetzt gespannt, ob alle demokratischen Parteien diesem – für die Soldaten in Kabul auf dem Flugplatz, in den Flugzeugen und Helikoptern äußerst gefährlichen Einsatz – zustimmen werden. Die drängende Evakuierungsaktion wurde allerdings durch diese verspätete parlamentarische Beteiligung nicht verzögert; weil bei „Gefahr im Verzug“ der Bundestag den Einsatz auch nachträglich - wie im Parlamentsbeteiligungsgesetz festgehalten – mandatieren kann. Wir und die bedrohten Menschen sind unseren Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr aus meiner Sicht zu größtem Respekt verpflichtet, denn diese Luftbrücke ist ein riskanter Einsatz, der die Evakuierung mit Spezialkräften und in enger Abstimmung mit unseren NATO-Partnern absichern soll.
Schlimm genug, dass die Taliban in kürzester Zeit das Land und auch die Hauptstadt Kabul vollständig unter ihre Kontrolle gebracht haben. Dass dieses Szenario offenkundig auch nicht von den Geheimdiensten international so vorhergesehen wurde, ist für uns Abgeordnete vollkommen verstörend und hat auch bereits letzte Woche das Parlamentarische Kontrollgremium (PKK) für die Geheimdienste BND und MAD (der national zuständige Verfassungsschutz spielt hier keine Rolle) kritisch beschäftigt. Auch unsere internationalen Verbündeten haben nicht vermutet, dass 300.000 gut ausgebildete und ausgerüstete afghanische Sicherheitskräfte sich offenbar ohne den geringsten Widerstand den 75.000 Taliban-Kämpfern ergeben und die afghanische Regierung fluchtartig ins Exil ausreisen würde, um die Zivilbevölkerung sich selbst zu überlassen. Das ist und bleibt – nach 20 Jahren Ausbildungs- und Aufbauarbeit – schockierend und wird definitiv im künftigen Deutschen Bundestag aufgearbeitet werden. Aber nun gilt es, unsere deutschen Staatsangehörigen und so viele ehemalige afghanische Ortskräfte wie möglich gemeinsam mit ihren Familien in Sicherheit zu bringen. Zusätzlich sollen auch Menschen- und Frauenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger, Journalisten und Kulturschaffende gerettet werden, denen unter den Taliban Gefahr für Leib und Leben droht. Dies ist aktuell gemeinsam mit unseren internationalen Partnern das oberste Ziel, denn Fakt ist: Wir haben eine Fürsorgepflicht für die Menschen und ihre Angehörigen, die für deutsche Einrichtungen gearbeitet und für sich für die Etablierung demokratischer Werte eingesetzt haben. Diese Verantwortung endet nicht mit dem Abzug deutscher und internationaler Kräfte aus Afghanistan.

Seitdem klar war, dass sich auch Deutschland aus Afghanistan zurückziehen muss (weil die US-Amerikaner ein fixes Datum zum Abzug bekannt gegeben hatten, und alle anderen internationalen Truppen OHNE die Amerikaner nicht in Afghanistan bleiben konnten), hat die SPD-Bundestagsfraktion im Frühjahr beim zuständigen Bundesinnenministerium (BMI) darauf gedrängt, dass es praktische Lösungen für die Aufnahme für unsere Ortskräfte geben muss. Auf Druck der SPD kam es immerhin im Juni zur erheblichen Erweiterung und Beschleunigung der Verfahren zur Aufnahme von Ortskräften, indem beispielsweise die Zweijahresfrist aufgehoben und der Zeitraum für Anträge rückwirkend um Jahre erweitert wurde. Im beschleunigten Verfahren wurden bis Anfang August für über 2.400 Personen binnen vier Wochen Visa erteilt. Von diesen Personen waren bereits VOR dem Einmarsch der Taliban in Kabul über 1.900 Menschen - Ortskräfte mit ihren Familien - sicher in Deutschland eingereist.

Seit dem 17. August 2021 steht die gemeinsame Luftbrücke mit den USA: Der Afghanistan-Einsatz gilt als bisher größte Evakuierungsmission der Bundeswehr. Nach den anfänglich chaotischen Szenen auf dem Flughafen und dem Rollfeld mit fehlenden Landungsmöglichkeiten für unsere stundenlang kreisenden Flugzeuge, verstärken deutsche Spezialkräfte die Amerikaner bei der Sicherung des Flughafens. Zusätzlich sollen Hubschrauber helfen bedrohte Menschen direkt auf den Flughafen zu bringen. Seitdem sind in 20 Flügen über 2.700 weitere Menschen aus 38 Nationen aus Afghanistan von der Bundeswehr evakuiert worden (beides Stand 23. August 2021 09:00 Uhr). Gleichzeitig wurden bis heute früh 13 Tonnen Hilfsgüter (Baby-Nahrung, Windeln, Hygieneartikel) in Kabul entladen. Nach NATO-Angaben sind bislang mehr als 18.000 Menschen vom Flughafen in Kabul durch die internationale Staatengemeinschaft ausgeflogen worden (Zahlen vom 20.08.). Der Einsatz dauert weiter an.

Die Taliban haben offenbar angekündigt, eine zivile Übergangsregierung zu errichten und mit der internationalen Staatengemeinschaft den Austausch suchen zu wollen. Für den Fall wird die Bundesregierung zusammen mit unseren internationalen Partnern und den Vereinten Nationen zügig vertiefte Kontakte zu einer solchen Regierung aufbauen. Für die Menschen in Afghanistan muss jede Chance genutzt werden, einen erneuten Bürgerkrieg in Afghanistan zu verhindern. Der deutsche Botschafter in Kabul steht in Doha (Katar) bereits mit den Taliban in Kontakt mit dem Ziel, dass Afghanen unter bestimmten Bedingungen Zutritt zum Flughafen erhalten.

Ich stimme zu, dass wir eine sofortige Katastrophenhilfe für Binnenflüchtlinge benötigen. Deshalb hat die Bundesregierung eine Soforthilfe in Höhe von 100 Millionen Euro für Geflüchtete aus Afghanistan bereits bereitgestellt. Mit dem Geld sollen internationale Hilfsorganisationen unterstützt werden, die die Flüchtlinge in den Nachbarländern humanitär unterstützen. Deutschland, Europa und die internationale Staatengemeinschaft dürfen die Anrainerstaaten, die bei vielen Flüchtlingen das 1. Ziel einer Flucht sein werden, bei der Aufnahme und Versorgung afghanischer Flüchtlinge nicht allein lassen. Die Fehler der Vergangenheit dürfen sich nicht wiederholen.

Noch ist es zu früh, um eine abschließende Beurteilung des 20-jährigen Afghanistan-Einsatzes vorzunehmen. Bei der Komplexität und langen Geschichte des Engagements wird es darum gehen, die Geschehnisse und die Ereignisse angemessen aufzuarbeiten, um daraus Schluss-folgerungen abzuleiten – wie z.B. für Mali. Die SPD-Bundestagsfraktion hat in einem im Juni verabschiedeten Positionspapier deswegen eine Gesamtevaluierung des zivilen, polizeilichen und militärischen Engagements in Afghanistan gefordert, um unser Handeln zu bewerten und Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen – das wird mit der Einsetzung einer Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages in der kommenden Legislaturperiode am ehesten gelingen können.

Doch Fakt ist: Wir müssen politisch jetzt alle Kraft in die Evakuierung der Menschen aus Afghanistan setzen und so viele wie möglich in Sicherheit bringen.

Die Bilder im Internet und Fernsehen bestürzen mich täglich zutiefst, zumal ich seit vielen Jahren diesem Land eng verbunden bin. Als ich vom 23. bis zum 30. Mai 2006 und vom 02. bis zum 06. September 2008 in Afghanistan war, habe ich im Land Licht und Schatten gleichermaßen erlebt. Aber bei vielen Expert*innen überwog doch die Hoffnung, dass die gesellschaftlich stabilisierenden Prozesse zwar einerseits einen langen Atem bräuchten, aber andererseits viele Erfolge für die Menschen in dem Land dauerhaft möglich wären. Es wurden Unis errichtet, Kinder genossen durchgängige Schulbildung, es wurden große Schritte in Sachen Selbstbestimmung und Gleichberechtigung getan. All das nun „in Scherben“ zu sehen, bricht mir das Herz. Aber alle Prognosen müssen sich schlussendlich an der Realität messen lassen und es zeigt sich leider, dass viele Prognosen leider eben doch nicht zutreffend waren. Nicht nur wir Abgeordneten, sondern auch die internationalen Partner und zahlreiche Afghanistan-Expert*innen haben die Lage falsch eingeschätzt. Es gibt nichts zu beschönigen. Fast zwei Jahrzehnte haben viele Menschen intensiv daran gearbeitet, das Leben mit und für die Menschen in Afghanistan zu verbessern, und es ist leider zu befürchten, dass davon nun nicht viel bleiben wird.

Besuch der Soldaten des Aufklärungsbataillon aus Eutin in Afghanistan (2006)

Ich habe übrigens von 2007 bis 2013 sechs öffentliche Informations- und Diskussionsveranstaltungen in Eutin zu der Entwicklung und den Perspektiven Afghanistans mit namhaften Ex-pert*innen durchgeführt, da gerade in Eutin aus dem Aufklärungsbataillon der Oberst-Herr-mann-Kaserne (früher „Rettberg-Kaserne“) seit über zwei Jahrzehnten Jahr für Jahr bis zu 200 junge Soldatinnen und Soldaten in die Auslandseinsätze nach Afghanistan, Bosnien, den Kosovo oder auch Mali gehen bzw. gegangen sind. Dabei lade ich als Referenten sehr bewusst Menschen aus so verschiedenen Bereichen wie der Entwicklungshilfe (GTZ) wie auch der Verteidigungs- und Außenpolitik ein – wie u.a. den jahrelangen „Chef“ des Kabuler Büros der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit Hans Hermann Dube, den heutigen Staatsminister beim Bundesminister des Auswärtigen Amtes Niels Annen, die Leiterinnen des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul Tina Marie Blohm und Dr. Almut Wieland Karimi und viele mehr aber auch Soldat*innen, Schüler*innen und geflüchtete Menschen aus Afghanistan. Ich hätte mir zu all diesen Veranstaltungen immer noch viel mehr Interessierte und Gäste gewünscht. Es ist schade, dass bei vielen Menschen das Interesse an dem Schicksal Afghanistans erst angesichts der aktuellen dramatischen Bilder zu erwachen erscheint.

 

Homepage Bettina Hagedorn

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